Freiheit für Alberto Patishtán

Politisch verfolgt, lebenslänglich verurteilt, seit 12 Jahren unrechtmäßig im Gefängnis
Alberto Patishtán Gómez war 29 als er ins Gefängnis kam. Heute ist er 41. Seine beiden Kinder mussten ohne Vater aufwachsen und haben ihn in den vergangenen 12 Jahren kaum gesehen. Für eine Straftat, die er nicht begangen hat, sitzt er seit einer unfassbaren Zeit von 12 Jahren unter inakzeptablen Haftbedingungen im Gefängnis.

Genau so lange kämpfen seine Familie, Freunde, Verwandten und Menschenrechtsorganisationen gegen die unhaltbaren Vorwürfe, die auf den ungereimten Aussagen eines einzigen Zeugen beruhen, dessen Vater in Patishtán schon lange einen politischen Gegner sah.

Wer ist Alberto Patishtán? – Im Einsatz gegen Korruption
Alberto Patishtán war bis zu seiner Verhaftung Lehrer in seiner Heimatgemeinde im Landkreis (Municipio) El Bosque. Im Jahr 2000 initiierte Alberto gemeinsam mit anderen eine Kampagne gegen die Veruntreuung öffentlicher Mittel durch den damaligen Präsidenten des Bezirks Manuel Gómez Ruiz.

Juni 2000: Die Beschuldigung
Im Juni 2000 wurden im selben Landkreis in einem Hinterhalt 8 Polizisten getötet. Eine Woche lang hielt sich in Patishtans Heimatort das Gerücht, man würde ihn für die Straftat verantwortlich machen und ihn so politisch zum Schweigen bringen. Viele rieten ihm zur Flucht. Von seiner Unschuld überzeugt, blieb er dennoch in seiner Gemeinde. Tatsächlich wurde Professor Patishtán am 19. Juni 2000 – mit Methoden, die gegen die Menschenrechte verstoßen und ohne richterlichen Haftbefehl – verhaftet und anschließend angeklagt.

1 Zeuge, 2 Aussagen – und dreifache Entlastung
Seine Verhaftung und Verurteilung beruhen auf der Aussage eines einzigen Zeugen, einem Überlebenden des Hinterhalts. Dabei handelte es sich um den Sohn des bereits erwähnten Präsidenten des Landkreises, gegen den Patishtán wegen Verdacht auf Korruption vorging.

Der Zeuge hatte zunächst ausgesagt, er könne sich lediglich erinnern, 15 vermummte Angreifer gesehen zu haben, die er nicht erkannt hatte. Später behauptete er dann, Patishtán sei einer der Angreifer gewesen. Ein weiterer Überlebender des Hinterhalts, ein Polizist, konnte diese Aussage nicht bestätigen.

Trotz den Aussagen von drei Entlastungszeugen wurde Patishtán wegen mehrfachen Mordes und Besitz militärischer Waffen zur Höchststrafe von 60 Jahren Haft verurteilt.

Hintergrund: Krieg niederer Intensität
Der Fall Patishtán ist der Extremfall einer gängigen Praxis der Bekämpfung politischen Engagements in Mexiko. Nicht selten werden Straftaten Aktivist_innen angelastet und ihnen unter Folter falsche Geständnisse abgerungen. Aufgrund des morbiden Justizsystems in Mexiko entsteht die Paradoxie, dass 98% der begangenen Menschenrechtsverletzungen straflos bleiben, andererseits aber tausende Menschen, v.a. indigenen Hintergrunds, unschuldig im Gefängnis sitzen.

In Mexiko gilt regulär die Schuldvermutung, d.h. nach erhobenem Vorwurf muss der Angeklagte seine Unschuld beweisen, statt umgekehrt. Es ist daher besonders für politische Gefangene äußerst schwierig, nach einmal erhobener Anklage die eigene Unschuld zu beweisen. Eine mögliche grundlose Verhaftung ist daher in Mexiko eine dauerhafte Bedrohung. Viele politische AktivistInnen sind davon betroffen.

Politisches Engagement unter widrigen Haftbedingungen
2006 schloß sich Alberto „La Voz del Amate“ („Stimme von Amate“) an, einer Gruppe, die ihren Status als politische Gefangene geltend macht und Misshandlungen und Menschenrechtsverletzungen von Inhaftierten öffentlich anprangert.“La Voz del Amate“ ist Teil der Otra Campana („Andere Kampagne“), einem Netzwerk des Widerstands in Mexiko und weltweit. Die Kampagne wurde 2006 als Gegenkampagne zum Wahlkampf von den Zapatistas in Leben gerufen um eine basisdemokratische Gesellschaft „von unten und von links“, d.h. unabhängig von politischen Parteien, aufzubauen.

Zweimal trat Professor Patishtán innerhalb der 12 Jahre Haft in Hungerstreik. Der erste Hungerstreik 2008 war ein Teilerfolg: 47 beteiligte politische Gefangene wurden freigelassen – nur Patishtán nicht. Die Regierung Calderón entschied, ihn weiterhin in Haft zu behalten.

Mit einem erneuten Hungerstreik 2011 demonstrieren mehrere Häftlinge in Chiapas gegen ihre politische Gefangenschaft und die Menschenrechtsverletzungen, die sie im Gefängnis erlitten. Patishtán, der sich auf Grund seines Gesundheitszustandes mit 12 Stunden täglichem Fasten beteiligte, wurde noch während des Streiks als gefährlich
eingestuft und in ein Hochsicherheitsgefängnis verlegt. Zahlreiche Menschenrechtsorganisationen sehen darin eine Bestrafung für Patishtáns politisches Engagement zur Befreiung seiner Mitgefangenen. Darüber hinaus unterrichtete er andere Häftlinge im Lesen und Schreiben. Für sein vielfältiges Engagement erhielt er 2010 von der Diözese San Cristóbal eine Auszeichnung.

8 Monate im Hochsicherheitsgefängnis: Isolationshaft, nur 15
Minuten Tageslicht täglich und keine medizinische Versorgung
Umso erschütternder sind die aktuellen Entwicklungen im Fall Patishtán. Im Hochsicherheitsgefängnis von Sinaloa sitzt er in Isolationshaft. Das Gefängnis ist 2000 km von seinem Heimatort entfernt, was Besuche seiner Familie fast unmöglich macht. Alle 2 Wochen darf er von einer Person Besuch empfangen und eine Person anrufen. Nachts bleibt das Licht an, innerhalb von 4 Tagen darf er eine Stunde bei Tageslicht verbringen; dies sind typische moderne Foltermethoden, die keine körperlichen Spuren hinterlassen und somit schwer als Folter anklagbar sind. Bücher wurden ihm bislang fast vollständig vorenthalten, ebenso Postkarten. Als entwürdigend und gegen seine indigene Tradition sieht Alberto besonders, dass er sich jedes Mal, wenn er seine Zelle verlässt, entkleiden und einer Durchsuchung unterziehen muss, auch in Anwesenheit von Frauen.

Eine weitere dramatische Menschenrechtsverletzung besteht in der Vorenthaltung medizinischer Versorgung. Patishtán leidet am grünen Star, einer fortschreitenden Krankheit, die unbehandelt zur Erblindung des Professors führen wird. Er erhält weder Untersuchungen noch eine dringend notwendige Operation.

Aktuelle Entwicklung
Am 6. Juni hat die chiapanekische Regierung gegenüber der Lehrer_innengerwerkschaft CNTE nach einer zweitägigen Besetzung des Hauptplatzes in Tuxla Gutiérrez (Chiapas) die Freilassung Patishtáns zugesichert. Allerdings weiß die Regierung des Bundesstaates Chiapas sehr wohl, dass dies außerhalb ihrer Kompetenzen liegt, da der Fall Patishtán auf föderaler Ebene behandelt wird. Einen Monat vor den mexikanischen Wahlen kann dies nur als medienwirksame Profilierungsmaßnahme der Regierung in Chiapas verstanden werden.

Es gilt daher, noch vor Ende seiner Amtszeit den Druck auf Präsident Calderon zu erhöhen und im Anschluss an die Zusicherung der chiapanekischen Regierung die sofortige, bedingungslose Freilassung von Alberto Patishtán zu fordern.

Vom 8. bis 15. Juni 2012 findet daher eine weltweite Aktionswoche zur Befreiung von Patishtán und Francisco Sántiz López unter dem Motto „Die Mauern der Gefängnisse umwerfen“ statt. Sie wurde von der New Yorker Gruppe „Movimiento por Justicia en El Barrio“ initiiert, die in der Vergangenheit bereits die Freilassung mehrerer politischer Gefangener bewirken konnte.

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